Station des Rundgangs "Auf Lessings Spuren" Karl Wilhelm Jerusalem 1747 – 72 Jurist und Philosoph
Über ein gutes Jahr entwickelt sich eine Freundschaft, der Lessing in seiner Vorrede zu den Philosophischen Aufsätzen Jerusalems ein bleibendes Denkmal gesetzt hat: »Der junge Mann, als er hier in Wolfenbüttel sein bürgerliches Leben antrat, schenkte mir seine Freundschaft. Ich genoß sie nicht viel über Jahr und Tag; aber gleichwohl wüßte ich nicht, daß ich einen Menschen in Jahr und Tag lieber gewonnen hätte, als ihn. [...] Es war die Neigung zu deutlicher Erkenntniß; das Talent, die Wahrheit bis in ihre letzten Schlupfwinkel zu verfolgen. Es war der Geist der kalten Betrachtung. Aber ein warmer Geist, und so viel schätzbarer; der sich nicht abschrecken ließ, wenn ihm die Wahrheit auf seinen Verfolgungen öfters entwischte.«
Sein weiterer Lebensweg führt den jungen Juristen im September 1771 an das Reichskammergericht in Wetzlar. Schon kurze Zeit nach Amtsbeginn fühlt er sich vereinsamt; ihm fehlen Freunde, die ihm Orientierung geben können, dazu kommen Schwierigkeiten mit seinem Vorgesetzten, dem Braunschweigischen Gesandten am Reichskammergericht, unter dessen pedantischem, auch unaufrichtigen Verhalten Jerusalem leidet. Zum zweiten Mal trifft er mit Goethe zusammen, ohne dass eine Freundschaft daraus entstanden wäre. Gesellschaftliche Demütigungen und die unglückliche Liebe zu einer verheirateten Frau führen zu weiterer Verbitterung und Resignation. Jerusalem sieht keinem Sinn mehr in seinem Leben; seine philosophischen Studien bestärken ihn in der Überzeugung, dass ein Leben ohne Ziele nicht erhaltenswert sei.
In der Nacht vom 29. zum 30. Oktober 1772 erschießt sich Karl Wilhelm Jerusalem in seiner Wohnung mit einer von Johann Christian Kestner entliehenen Pistole.
Lessing ist tief bewegt über diesen Tod seines jungen Freundes, der - nach damals geläufiger Auffassung - Schande über das Haus des Abtes brachte. Umso schmerzlicher berührt ihn die Lektüre von Goethes Werther; im Brief an Eschenburg vom 26. Okt. 1774 beklagt er, wie Goethe die Geschichte Jerusalems missbraucht habe, um in Werther einen grundverschiedenen, von »Schwärmerey« bestimmten Charakter darzustellen. Gewissermaßen zur Ehrenrettung Jerusalems entschließt sich Lessing, dessen Philosophische Aufsätze herauszugeben. Die Zeitgenossen haben Lessings Motive wohl verstanden; Elise Reimarus schreibt in einem Brief: »Er gesteht, daß er größtentheils Goethe zum Trotze sich verbunden erachtet, Jerusalems echte Geistesgestalt der Welt in seinen philosophischen Abhandlungen vorzulegen.«